Im Mai 2011 beschlossen meine Freundin Elisabeth Tauber und ich, gemeinsam ein Fotoprojekt zu beginnen. Es war die Zeit, in der die ersten Flüchtlinge aus dem Libyenkrieg über Lampedusa nach Italien kamen und anschließend auf die verschiedenen Regionen verteilt wurden. Elisabeth ist Sozialanthropologin an der Freien Universität Bozen. Wir beide hatten bis dahin noch keine Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingen.
Elisabeths Idee war es, ein partizipatives Fotoprojekt zu starten. Nicht nur ich, der Fotograf und sie, die Wissenschaftlerin, wollten uns den Flüchtlingen beobachtend nähern, sondern auch die Flüchtlinge selbst sollten die Möglichkeit erhalten, ihre Perspektive auf das neue Leben im völlig fremden, (alpinen) Umfeld zu zeigen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sollten mit in das Projekt einfließen. Ihr Blick auf uns sollte zumindest das gleiche Gewicht erhalten, wie unser Blick auf sie. Der partizipative Ansatz wurde in der Sozialanthropologie international schon öfters mit Erfolg angewendet. Als Endprodukt des Projektes wollten wir eine Wanderausstellung für Südtiroler Schulen konzipieren.
Wir schrieben mehrere Konzepte, suchten und fanden einen Sponsor (Benno-Barth-Stiftung / Brixen) und begannen unsere Arbeit mit den Flüchtlingen schließlich im Oktober 2011. Als Namen für das Projekt wählten wir: "Sehen und gesehen werden"
Italien hat zur Zeit des Libyenkrieges und danach ein Programm in's Leben gerufen, mit dem Namen "EMERGENZA NORDAFRICA". Im Rahmen dieses Programms wurden circa 26.000 Flüchtlinge aufgenommen, registriert und in verschiedenen Regionen Italiens in Strukturen untergebracht, die teilweise eigens zu diesem Zweck gegründet wurden.
Jede Region musste entsprechend ihrer Einwohnerzahl ein Kontingent aufnehmen, - für Südtirol waren das circa 250 Flüchtlinge. Diese wurden auf verschiedene Einrichtungen verteilt, größere und kleinere, in Meran, in Bozen und im Pustertaler Dorf Vintl.
Wegen der Nähe zu meinem Wohnort Brixen und weil die Struktur in Vintl die kleinste war, gut überschaubar und mit fast familiärem Charakter, suchte ich das sogenannte "FISCHERHAUS" in Vintl für das Projekt aus.
Zu diesem Zeitpunkt waren im Fischerhaus vier Männer aus Bangladesh und sechzehn aus verschiedenen Ländern West- und Nordafrikas untergebracht, nämlich aus: Ghana, Elfenbeinküste, Senegal, Mali, Guinea Conakry, Chad, später kamen noch Marokko, Niger und Burkina Faso dazu.
Das erste Treffen mit den Männern lief sehr gut und alle wollten mitmachen. Ich bin nicht mit einem strengen Konzept im Kopf an die Sache herangegangen. Es war aber an eine Art Foto- und Computerkurs gedacht. Wir hatten die Mittel für 16 kleine Digitalkameras und zwei Laptops, die für das Projekt eingesetzt wurden. Die Teilnehmer bekamen die Kameras und sollten sie auch unabhängig von mir benutzen. Bei jedem Treffen mit den Männern "sammelte ich ihre Bilder ein". Parallel habe auch ich meistens Fotos gemacht.
So entstand ein Pool aus 7000 Fotos von den Flüchtlingen und ca. 3000 von mir. Die Computer verwendeten wir nicht nur um die Bilder zu betrachten und für kleinere Bildmanipulationen, sondern auch um Facebook, Gmail, Youtube und Skype kennenzulernen. Für die meisten war das Neuland. Umso erstaunlicher war es, wie schnell, - einige waren noch nie zur Schule gegangen und hatten Probleme mit dem Schreiben-, sie mit den neuen Medien zurechtkamen.
Wir saßen nicht nur im Haus herum, sondern unternahmen auch Ausflüge, einmal wegen der Unterhaltung und um etwas über Land und Leute zu lernen. Die Kameras waren immer dabei.
So habe ich bei meinen Besuchen bei den Männern allmählich viel über sie erfahren, über ihre Herkunft, ihre Familien und ihre Fluchtgründe. Es war ein vorsichtiges Herantasten an die Lebensgeschichten, das viel Einfühlungsvermögen erforderte. Nicht immer bin ich dem gerecht geworden. Traumatisierung durch Kriegserlebnisse, Bürgerkrieg, Gefängnisaufenthalte mit Folter waren nicht bei allen Flüchtlingen manifest, aber im Verhalten mancher immer wieder erkennbar. Häufig musste ich meine kulturellen Programmierungen zur Seite legen, um Kommunikation überhaupt möglich zu machen.
Sprachschwierigkeiten gab es auch. Meine Französischkenntnisse sind mehr als dürftig. Viele der Flüchtlinge lernten aber dank der angebotenen Sprachkurse erstaunlich schnell, sich in Italienisch auszudrücken.
Im Herbst 2012 war es dann soweit, eine Auswahl aus der Bilderflut zu treffen. In viel Vorarbeit und in mehreren Workshops kamen Elisabeth und einige freiwillige Helfer, die sich für Interviews und Bildbesprechungen zur Verfügung stellten zu Texten und Aussagen der Flüchtlinge, die dann in der geplanten Ausstellung ihren Platz fanden. Meist sind es kurze, aber erhellende Statements, die einerseits unser Unwissen über die Lage von Flüchtlingen offenlegen und andererseits den Prozess des Ankommens und des sich Einlebens in eine fremde Kultur widerspiegeln.
Ein weiterer Teil des Projektes war dann eine Reise nach Westafrika. Ich wollte die Spuren der Flüchtlinge mit meiner Kamera nachzeichnen, wollte sehen, woher sie kommen, versuchen zu zeigen, warum sie ihre Heimat verlassen haben. Dieses Projekt habe ich dann "Ways to Vintl" genannt.
Zur Vorbereitung auf das Projekt bin ich im Juli 2011 noch nach Tunesien gereist, um ein Flüchtlingscamp (Choucha-Camp) zu besuchen, das nahe der tunesisch-libyschen Grenze liegt um mir aus erster Hand ein Bild zu machen, von dem was da vor sich ging, welche humanitäre Katastrophe die Nato-Bombardements ausgelöst hatten und was es für die ehemaligen Gastarbeiter aus Libyen bedeutete, plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Es war ein sehr bedrückender und beeindruckender Besuch in dem Camp. (Bilder hier)